Zuhören, Wahrnehmen und Erarbeiten von Zielen
- Johannes Riedmann

- 15. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Johannes Riedmann erhielt 2025 von der Europäischen Schmerzgesellschaft (EFIC) den Louis Gifford Preis und traf sich mit dem Koordinator des fachlichen Netzwerk Schmerz, Bernhard Taxer, zum Doppelinterview. Dabei schlüpften beide auch in die Rolle des Interviewers. Das Ergebnis ist sehr lesenswert.
Das Curriculum der Europäischen Schmerzgesellschaft ist ja sehr umfassend. Welchen Aspekt findest du besonders wichtig für die tägliche Arbeit mit Schmerzpatient:innen? Was hat dich persönlich dazu bewogen, dich so intensiv mit dem Thema Schmerz auseinanderzusetzen?
Bernhard Taxer: Lass mich einmal mit der zweiten Frage beginnen. Letztendlich hatte ich meine ersten Erfahrungen mit Menschen, welche an komplexen Schmerzerkrankungen litten, auf der Psychiatrie in Innsbruck, meiner ersten Berufsstelle. Ich hab es einfach nicht verstanden, wie jemand noch Schmerzen haben kann und man nichts Strukturelles finden kann? In der Akademie hab ich es doch so gelernt, dass da irgendwas sein muss? Zu schnell bin ich dann in das reine “Psycho-Denken” hinein gerutscht, was aber auch nicht die Antwort auf meine Fragen war. Somit habe ich mich über diverse Ausbildungen und dem immer größer werdenden Interesse daran in der Tiefe versucht, damit auseinanderzusetzen. Aber zugegeben, die absolute Weisheit habe ich natürlich immer noch nicht… :-)
Das führt mich ein wenig zurück zur ersten Frage. Das EFIC Curriculum liefert einen umfassenden Blick auf die Versorgung und das Management von Schmerz, aber auch auf die physiologischen und psychologischen Komponenten dazu. Es war eine Möglichkeit, sich noch tiefer mit dem Wissen von führenden Expert:innen zu vertiefen und sich auszutauschen. Zusätzlich war es eine große Unterstützung zu reflektieren, inwiefern unser Schmerzkurs, welchen wir gemeinsam mit den Ärzt:innen (ÖÄK Diplom) inzwischen seit 10 Jahren organisieren, und der nebenbei in Zukunft auch die Schmerzpsychotherapie mit an Bord haben wird, den aktuellen Wissensstand liefern kann und hoffentlich eine evidenzbasierte und klinisch-orientierte Kompetenzsteigerung bietet.
Johannes, herzlichen Glückwunsch zum Louis-Gifford-Preis und zur bestandenen Prüfung! Was erwartet einen bei der Prüfung, und wie hilft dir das in deiner Praxis in Vorarlberg?
Johannes Riedmann: Die Prüfung für das Schmerzdiplom umfasst einen theoretischen, klinischen und praktischen Teil. Vorbereitungsmöglichkeiten bieten eine Online-Akademie, der Europäische Schmerzkongress, der dieses Jahr in Lyon stattfand, und die "Pain Schools". Besonders herausfordernd war für mich die praktische Prüfung in Belgien, bei der man ein Fallbeispiel zieht und klinische Fragen auf Englisch mit einer Schauspielerin als Schmerzpatientin beantworten muss. Die Prüferinnen stellen dabei gezielte Fragen, um das Verständnis zu testen – eine Art Theater mit Jurybewertung. Ich war dabei im absoluten Kampf-/ Fluchtmodus und komplett nervös :-)
Als Physiotherapeut einen Preis zu gewinnen, ist für mich eine absolute Premiere, und ich bin sehr stolz darauf. Der Louis-Gifford-Preis, der für die höchste Gesamtpunktzahl in allen drei Prüfungen verliehen wird, ging zum ersten Mal an einen deutschsprachigen Therapeuten. Für meine Arbeit hat es sicher viel gebracht von den vielen Expertinnen aus aller Welt lernen zu dürfen. Mein Ansatz hat sich dahingehend verändert, dass ich weniger rede und aktiver zuhöre. Ich begegne SchmerzpatientInnen mit Neugier und bin daran interessiert mit ihnen gemeinsam neue Perspektiven für ihre Themen zu entwickeln. Unser Fokus liegt darauf, neue Gewohnheiten und einen veränderten Lebensstil zu etablieren, anstatt dem Konzept zu folgen, den Körper wie ein Auto "reparieren" zu wollen.
Welche Erkenntnisse oder Entwicklungen in der Schmerzforschung findest du besonders spannend und vielversprechend? Wie siehst du die Zukunft der Schmerztherapie und welche Entwicklungen erwartest du in den nächsten Jahren?
Bernhard Taxer: Aus biologischer Sicht, die Forschung zu immunologischen Zusammenhängen bzw. Einflüssen im Rahmen der Nozizeption und Schmerz. Auch die Thematik der endogenen Hemmung zu Nozizeption finde ich sehr interessant, vor allem aus dem Blickpunkt unserer physiotherapeutischen Möglichkeiten heraus, wenn man conditioned pain modulation denkt, welche vielleicht durch manualtherapeutische Techniken aber vor allem durch aktives Training und Bewegung zu erreichen wäre.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist für mich derjenige der Kommunikation mit der betroffenen Person und die vielen Möglichkeiten der Gesprächsführung im klinischen Setting. Das reicht von einem klinisch-diagnostischen Blickpunkt bis hin zur (motivationalen) Therapie durch Zuhören, Wahrnehmen, Erarbeiten von Zielen etc. Auch die Ideen der verkörperten Kognition, welche sich in neueren Überlegungen eines phänomenologischen Blicks auf Schmerz widerspiegeln und letztendlich wahrscheinlich auch die Basis für Embodiment Strategien und auch Mindfulness Ansätze sind.
Wohin willst du dich in den nächsten Jahren entwickeln? Was sind deine Zukunftspläne beim Unterrichten?
Johannes Riedmann: Ich unterrichte seit 2016 muskuloskelettale Ultraschalldiagnostik bei der ärztlichen Arthrosonographie-Ausbildung in Deutschland. Das nimmt etwa zehn Wochenenden pro Jahr in Anspruch. Dann ist da noch der Master an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), den ich grad mache. Damit fühle ich mich derzeit gut ausgelastet. In den nächsten Jahren will ich einfach ein guter Kliniker für Menschen mit rezidivierenden Schmerzerkrankungen sein und Lerninhalte für Patientinnen erstellen. Das universitäre Umfeld tut zwar sehr gut, um den Kopf frisch zu halten, aber um in die Forschung und Lehre zu gehen, liebe ich die Arbeit mit Patientinnen zu sehr.
Was würdest du PhysiotherapeutInnen raten, die sich für das Thema Schmerztherapie interessieren und ihr Wissen erweitern wollen? Welche Vorteile bietet das Curriculum der Europäischen Schmerzgesellschaft für PhysiotherapeutInnen in der Praxis? Wie hat die Teilnahme deine eigene Arbeit und Denkweise beeinflusst?
Bernhard Taxer: Geduld, vor allem im Umgang mit unseren Patient:innen. Ich denke, es ist eine aktive Entscheidung mit Menschen zu arbeiten, die eine chronische bzw. anhaltende Schmerzerkrankung haben. Das muss man schon auch mögen, auch wenn es sehr anstrengend ist und ich regelmäßig an meine mentalen Grenzen komme. Zum Glück habe ich selbst ein gutes Umfeld und lasse mich, auch für mich sich selbst, schon seit ein paar Jahren professionell begleiten. Außerdem frage ich regelmäßig bei kompetenten Kolleg:innen aus unterschiedlichen Fachbereichen nach, lese so viel es meine Zeit zulässt und versuche mich so gut es die eigene Eitelkeit zulässt zurückzunehmen. Wenn es mir selbst mit mir und meinem Umfeld gut geht kann ich mich auch viel besser auf die Prozesse und Lebensumstände dieser Personen, welche sich oft auf Grund ihrer Schmerzen in schwierigen Lebensphasen befinden, einlassen.
Wie findest du einen guten Ausgleich? Wie bewältigst du die Belastungen der Selbstständigkeit, und inwiefern hilft dir dein Wissen über Schmerzmanagement dabei?
Johannes Riedmann: Meine Work-Life-Balance ist eher ein Work-in-Progress – aber das ist für mich in dieser Phase auch gut so! Mit Mitte 30 bin ich noch voll im Aufbau und die Arbeit als Physiotherapeut ist für mich mehr als ein Job: Es ist meine absolute Leidenschaft. Deshalb sind 10-12 Stunden und auch Fortbildungen am Wochenende oft die Norm.
Der Ausgleich ist mir dabei aber enorm wichtig und ich gestalte ihn sehr bewusst durch aktive Erholung und wertvolle Beziehungen. Ein echtes Highlight war im April eine gemeinsame Radtour entlang der Rhone bis ans Mittelmeer.
Im normalen Alltag halte ich mich mit einem kurzen, täglichen Krafttraining (10-20 Minuten am Morgen) und einmal pro Woche Tanztraining fit. Ich profitiere auch direkt von meinem Beruf: Ich nutze aktiv die Entspannungstechniken meiner Patientinnen, um selbst besser regenerieren und runterfahren zu können.
Was mir zusätzlich enorm hilft, ist der bewusste Verzicht auf Social Media: Für meine Praxis produziere ich zwar Inhalte, aber meinen Konsum habe ich vor einem Jahr vollständig gestoppt. So bleibt mehr Raum für das, was wirklich zählt.
Die europäische Schmerzgesellschaft besteht seit 1993 als Untergruppe der International Association for the Study of Pain (IASP) und organisiert neben dem europäischen Schmerzkongress regelmäßig Veranstaltungen zu allen Themen-Bereichen aus multiprofessioneller Sicht. In diesem Rahmen ist es möglich, das europäische Schmerzdiplom für Physiotherapeut:innen (EDPP) abzuschließen, wo auch das Schmerz-Zertifikat von FOKUS Medizin in Kooperation mit Physio Austria in St. Gilgen zur Vorbereitung geeignet ist.
Johannes Riedmann
Selbstständiger Physiotherapeut (seit 2012). Praxis in Hohenems, Vorarlberg. Tätigkeitsschwerpunkte: Muskuloskeletale Physiotherapie, Schmerzphysiotherapie
Bernhard Taxer
Physiotherapeut, OMT, EDPP, Koordinator des fachlichen Netzwerks Schmerz von Physio Austria







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